Gesta Romanorum oder Die Taten der Römer, 143. Kapitel: Angst vorm Jüngsten Gericht - bitedition.net

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Gesta Romanorum oder Die Taten der Römer

Angst vorm Jüngsten Gericht

aus
Gesta Romanorum oder Die Taten der Römer,
dem ältesten Märchen- und Sagenbuch des christlichen Mittelalters

Es gab einst einen König, der das Gesetz erließ, dass wenn Jemand plötzlich des Todes sterben müsste, man früh vor Sonnenaufgang vor seinem Hause mit Trompeten blasen, er sich dann sogleich schwarze Kleider anziehen und zum Gericht kommen solle.

Dieser König veranstaltete nun ein großes Gastmahl und ließ alle Fürsten seines Reiches dazu einladen und diese kamen auch alle. Bei diesem Gastmahl fanden sich nun auch alle möglichen Musiker ein, welche durch ihre süßen Melodien den Gästen viel Vergnügen machten. Der König zeigte aber keine Heiterkeit oder irgend ein Zeichen von Vergnügen, sondern machte ein trauriges Gesicht und stieß Seufzer und Wehklagen aus. Wie das die Gäste sahen, wunderten sie sich, wagten aber nicht ihn um die Ursache seiner Traurigkeit zu fragen, sondern sagten zu dem Bruder des Königs, er möge doch dem Grunde dieser Betrübnis nachforschen.

Dieser tat das auch und sagte, dass sich alle Gäste über seine so große Bekümmernis verwunderten und er sie gern erfahren möchte. Der König aber sprach: „Geh in Deine Wohnung und Du sollst bei Tagesanbruch meine Antwort hören“, und so geschah es. Der König aber befahl den Trompetenbläsern, sie sollten am folgenden Morgen vor seines Bruders Haus kommen, mit den Trompeten blasen und ihn dem Gesetz gemäß vor ihn führen; was sie auch taten.

Als nun der Bruder des Königs früh morgens Trompeten vor seinem Hause hörte, da verkrampften sich alle seine Eingeweide, er stand auf, zog schwarze Kleider an und begab sich zum König. Der aber ließ eine tiefe Grube aufwerfen und über die Grube einen gebrechlichen Stuhl mit vier schadhaften Beinen stellen, seinem Bruder die Kleider ausziehen und ihn auf den Stuhl setzen. Wie er aber auf den Stuhl gesetzt worden war, befahl er, man solle ein scharfes Schwert an einem seidenen Faden über seinem Kopfe aufhängen. Hierauf befahl er vier Männern mit scharfen Schwertern, einer von vorn, der andere von hinten, der dritte von der rechten und der vierte von der linken Seite zu ihm zu treten, und als sie sich aufgestellt hatten, sagte der König zu ihnen: „Wenn ich es Euch befehlen werde, stoßt Ihr bei Todesstrafe eure Schwerter in ihn hinein.“

Hierauf ließ er Trompeten und alle Arten Instrumente bringen und vor seinem Bruder eine Tafel mit verschiedenen Speisen decken und sprach: „O mein liebster Bruder, weshalb bist Du so traurig und warum hast Du solche Kümmernis in Deinem Herzen? Siehe hier die köstlichsten Gerichte, hier die lieblichsten Melodien. Warum bist Du nicht vergnügt und freust Dich?“

Der antwortete: „Wie kann ich froh sein, wenn ich zum Zeichen, dass ich sterben soll, heute früh den Schall der Trompete vor meinem Hause vernommen habe und jetzt auf einen wandelbaren und zerbrechlichen Stuhl gesetzt worden bin. Wenn ich mich unbedachtsam rühre, bricht derselbe und ich falle in die Grube, aus der ich nicht wieder heraus kann. Wenn ich meinen Kopf aufrichte, wird mich das über meinem Kopf hängende Schwert bis aufs Gehirn durchbohren, und vier Henker stehen um mich herum und sind bereit auf ein einziges Wort von Euch mich mit ihren Schwertern nieder zu stoßen. Wenn ich das bedenke, könnte ich mich, auch wenn ich der Herr der ganzen Welt wäre, doch nicht freuen.“

Darauf sprach der König zu ihm: „Nun antworte ich Dir auf Deine Frage von gestern, warum ich nicht vergnügt sei. Ich bin wie Du auf einen wandelbaren, zerbrechlichen Stuhl gesetzt, weil ich mich in einem gebrechlichen Leibe mit vier wandelbaren Beinen, nämlich den vier Elementen, befinde. Unter mir ist die Höllengrube, über meinem Haupte hängt ein spitzes Schwert, nämlich Gottes Gericht, welches bereit ist meine Seele vom Körper zu scheiden, vor mir ist ein scharfes Schwert, nämlich der Tod, der Niemanden verschont und unverhofft kommen kann, wo und wann, weiß ich nicht. Hinter mir ist ein zweites Schwert bereit mich zu durchbohren, nämlich meine Sünden, die ich in dieser Zeitlichkeit begangen habe, stehen bereit mich vor dem Richterstuhle Gottes zu verklagen. Das Schwert an meiner rechten Seite ist der Teufel, der herumgeht und sucht, wen er verzehre, aber immer bereit ist meine Seele zu erhaschen und sie zur Hölle zu führen. Das Schwert an meiner linken Seite aber sind die Würmer, welche mein Fleisch nach meinem Tod fressen werden. Wenn ich, mein liebster Bruder, alles das bedenke, werde ich nimmermehr froh sein können; wenn Du aber Dich heute so sehr vor mir, der ich doch nur ein sterblicher Mensch bin, gefürchtet hast, muss ich also um vieles mehr meinen Schöpfer und Erlöser, unsern Herrn Jesus Christus fürchten. Geh also hin, mein lieber Bruder, und wolle er künftig nicht mehr solche Fragen an mich richten.“

Der sprang auf und dankte seinem Bruder, dem König, für die Erhaltung seines Lebens, indem er ihm das feste Versprechen gab, er wolle fortan seinen Lebenswandel bessern. Alle aber, welche zugegen waren und das hörten, lobten die Antwort des Königs.

Quellenangabe:
Gesta Romanorum oder Die Taten der Römer,
dem ältesten Märchen- und Sagenbuch des christlichen Mittelalters, II, 143. Kap.
1842 von Dr. Johann Georg Theodor Grässe aus dem Lateinischen übersetzt.
Leicht überarbeitet, an die heutige Rechtschreibung angepasst, ohne Moralisationen.
Copyright: Gemeinfrei.

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